Der zweite Krieg der afghanischen deutschen Veteranen

Die Wiederherstellung der Taliban-Macht hat unter Bundeswehr-Veteranen eine Revolte ausgelöst, die den Eindruck erweckt, in dem asiatischen Land vergeblich gedient zu haben. Besonders groß ist die Empörung bei den Kriegstraumatisierten. Jenni Bruns fiel es schwer, die Bilder vom Einmarsch der Taliban in Kabul zu ertragen. „Ich kann nicht“, sagt der ehemalige Soldat ins Telefon. 2010 wurde sie nach Afghanistan geschickt, wo sie in einer Wasseraufbereitungsanlage auf einem Stützpunkt im Norden des Landes arbeitete, wo sie Taliban-Angriffe miterlebte und verletzte und getötete Kollegen sah. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wurde bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) diagnostiziert. Seitdem leidet sie unter Albträumen, Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Panikattacken. „Ich habe meine Gesundheit für diese Mission geopfert.“ Dass die Taliban jetzt alles Erreichte der internationalen Truppen deutlich vereiteln, ist für Militärs wie sie eine große Belastung. „Ich habe derzeit mit einer enormen Zunahme von Flashbacks und Schlaflosigkeit zu kämpfen“, sagt Bruns, der 36 Jahre alt ist. Bei PTSD reproduziert das Gehirn vergangene traumatische Erfahrungen. „Normalerweise sehe ich wieder viel Blut, mir ist heiß, der Geschmack von Sand liegt auf meiner Zunge“, sagt er. „Ich habe gerade die Therapie verlassen und wir haben über ‚Retraumatisierung‘ gesprochen. „Sturm der Emotionen“ Bruns ist nicht allein. „Das Scheitern einer internationalen Militärmission ist ein großer Misserfolg für die Traumatisierten“, betont Bernhard Drescher. Als Soldat wurde er dreimal ins Ausland geschickt, wo er auf dem Balkan diente. Heute leitet er den Deutschen Veteranenbund, der Verletzte im Einsatz berät und unterstützt. Seit die Taliban schnell die Kontrolle über Afghanistan zurückerobert haben, klingeln die Telefone des Verbandes. Viele nennen sich schockiert und angewidert. „Jetzt fragen sie warum, wäre das alles umsonst?“, sagt Drescher. Viele der 160.000 deutschen Soldaten, die in Afghanistan stationiert sind, erleben einen „Sturm der Emotionen“. Viele rufen nur an, um zu reden, ein Paar freizulassen und sich dann zu erholen. „Aber es ist sehr schlimm für jemanden, der traumatisiert ist“, sagt Drescher. Das Gefühl, alle persönlichen Opfer seien umsonst gewesen, kann die in der Therapie erzielten Erfolge zunichte machen. Derzeit sind die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Vereins aufgrund des hohen Beratungsaufkommens „am Limit“. Der Verein setzt sich jedoch dafür ein, niemandem zu helfen, der psychisch krank ist. „Wenn wir es wünschen, klopfen unsere Ehrenamtlichen spätestens innerhalb von 48 Stunden an die Tür. Und in Großstädten in noch kürzerer Zeit.“ Wut und Traurigkeit Bruns findet es sinnvoll, über ihre Gefühle zu sprechen und ihre Gedanken aufzuschreiben. Wenn er sieht, was in Afghanistan passiert, ist er am meisten wütend. Der Abzug der internationalen Truppen sei seiner Meinung nach „völlig überstürzt“ gewesen. „Dass die Taliban jetzt Haus für Haus gehen und durchsuchen, macht mich sprachlos, unendlich traurig und wütend.“ Er denkt auch an die örtlichen Beamten, die bei der Bundeswehr gearbeitet haben, an die zurückgebliebenen Frauen und Kinder. Er glaubt, dass es in 20 Jahren Betrieb an Vision und Nachhaltigkeit mangelte. Ein Beispiel dafür ist, dass afghanische Streitkräfte dem Vormarsch der Taliban wenig Widerstand entgegensetzen. „Sie wollen den Sinn in dem sehen, was Sie getan haben. Und ich sehe das bei dieser Mission nicht mehr“, schließt Bruns. Sie dachte auch an die Familien von Kollegen, die ihr Leben verloren hatten. „Natürlich fragen Sie: Haben 59 in Afghanistan gefallene deutsche Soldaten umsonst ihr Leben verloren?“ Ein Überblick über das Geschehene Das Bundesverteidigungsministerium wollte diese und andere Fragen im August diskutieren. Er lud Politiker, Experten und Militärs zu einer Veranstaltung ein, um sich über den Einsatz in Afghanistan auszutauschen. Bruns wird Ehrengast sein. Doch wegen eines Blitzeinschlags in Kabul wurde alles abgesagt. Die Aufarbeitung und Auswertung der Operation dürfe jedoch nicht ausgelassen werden, so afghanische Veteranen. Ansonsten könnten sich die gleichen Fehler bei anderen Einsätzen wiederholen, etwa bei der Bundeswehr in Mali. Bruns fordert auch das Militär auf, dem zwei Jahrzehnte währenden Einsatz in Afghanistan ehrlich Rechnung zu tragen. Und wenn das nach der Bundestagswahl in Deutschland im September passiert ist, müssen die Verantwortlichen kritisiert werden: „Man muss sich die Zeit nehmen, ehrlich sein und seine Fehler eingestehen.“ Der lange „zweite Krieg“ des Deutschen Veteranenbundes glaubt, dass die afghanische Mission die deutsche Gesellschaft noch lange beschäftigen wird. Vor allem psychische Narben treten oft Jahre nach der Mobilisierung auf, stellt Drescher nicht nur im Zusammenhang mit PTSD, sondern auch für eine Reihe psychischer Erkrankungen fest. Viele Betroffene sind zum Zeitpunkt der Diagnose nicht mehr in der Bundeswehr und können sich nicht mehr auf die Assistenzmechanismen der Einheit verlassen. „Ich bin sicher, er wird in einen zweiten Krieg eintreten: einen Verwaltungskrieg um die Behandlung.“ Im Jahr 2020 wurde nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums bei rund 300 Soldaten des afghanischen Einsatzes eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Die Bundeswehr betreibt seit langem einen Trauma-Service, den PTSD-Patienten rund um die Uhr anrufen können. Und im Moment gibt es nach Angaben des Verteidigungsministeriums nicht mehr Anrufe als sonst. Dies steht im krassen Gegensatz zu dem, was Veteranenverbände erleben. Und es ist, so Drescher, nur eine Frage der Zeit, bis die Zahl der Hilfebedürftigen eintrifft. „Nach unseren Beobachtungen dauert es fünf bis sieben Jahre, bis Behinderte um Hilfe rufen. Autor: Nina Werkhäuser
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